Auch in ihrem dritten Krimi bleibt die irische Autorin Tana French sich treu. Sie nimmt eine der Figuren, die aus dem Vorgängerroman schon bekannt war, und macht sie zum Protagonisten, der das Geschehen aus der Ich-Perspektive schildert. Sie stattet ihn mit einem bunteren und komplizierten Innenleben aus, schenkt ihm Konflikte, Ecken und Kanten, und lässt uns dann am Leben dieser Figur teilhaben.

Die ziemlich wahl- und einfallslosen deutschen Titel „Grabesgrün“, „Totengleich“ und „Sterbenskalt“ sollen diesen Zusammenhang wohl verdeutlichen. Das ist eine deutsche Unart, und nimmt den Büchern auf den ersten Blick leider etwas von ihrem Charakter, wie ich finde. Original heißen die Romane „In The Woods“, „The Likeness“ und „Faithful Place“ und können alle für sich gelesen werden, weil sie weder auf den Vorgängerroman aufbauen, noch diesen zum besseren Verständnis bräuchten.

In „Sterbenskalt“ erfahren wir zum Beispiel eine Menge neue Dinge aus der Vergangenheit der Hauptfigur, die zuvor noch nie angedeutet wurden. Egal, ob wir den Namen Frank Mackey schon einmal gehört haben oder nicht; erst jetzt lernen wir ihn richtig kennen.

 

Inhalt

Frank ist Mitte 40, Undercoverpolizist und ein knallharter Hund. Er trinkt zu viel Kaffee, raucht Kette und kniet sich mit solch einer Leidenschaft in seinen Job, dass für sein Privatleben kaum noch Zeit bleibt. Die Folge: Seine Ehe wurde vor ein paar Jahren geschieden. Das einzige, für was sein Herz höher schlägt als für die Polizeieinsatz und für was er durchs Feuer gehen würde, ist seine 9-jährige Tochter Holly, die bei seiner Ex-Frau lebt.

Eines schönen und nichtsahnenden Tages erhält er ein Anruf von seiner jüngeren Schwester Jackie, die ihn bittet, er möge doch nach „Hause“ in das Stadtteil kommen, in dem seine Eltern leben. Frank weigert sich. Seit 22 Jahren hat er seine Mutter, seinen Vater und seine anderen drei Geschwister nicht mehr gesehen, und hat es auch nicht vor. Jackie ist die einzige, mit der er sporadischen Kontakt hält.

Aber als sie sagt, dass ein Koffer in einer leer stehenden Baracke gefunden wurde, ändert sich alles.

Immer wieder werden dann Flashbacks von 1985 eingeblendet: Frank ist 19 und unsterblich in ein rothaariges Mädchen namens Rosie verliebt, die im gleichen Haus am Faithful Place lebt. Ihre und seine Eltern sind seit Jahren zerstritten und verfeindet, und dulden die Beziehung der beiden nicht. Auch sonst begegnet uns nur Trostlosigkeit, Armut und menschliches Versagen. Franks Vater ist ein Säufer, schlägt seine Mutter und die Kinder. Die Mutter ist hart, zynisch und eiskalt geworden. Die Geschwister schauen, angesichts der miesen wirtschaftlichen Lage in Dublin und ganz Irland, einer düsteren Zukunft entgegen.

Da liegt für Frank und für die wilde und lebenslustige Rosie nichts näher, als gemeinsam durchzubrennen. In einer Nacht und Nebelaktion verabreden sie sich, sich heimlich zu treffen, und dann die Fähre nach England zu nehmen, um ein neues Leben zu beginnen.

Das große Drama von Franks Leben – das was ihn als Person und vor allem auch als Mann gezeichnet hat, ist, dass Rosie nie aufgetaucht ist. Die ganze Nacht hat er auf sie gewartet, aber nur ein Abschiedsbrief gefunden, in dem sie schrieb, sie würde allein fahren.

Gebrochen und voller Schmerz nimmt Frank das hin, zieht allein los, löst sich von seiner Familie, und schafft den Absprung, indem er später Polizist wird.

 

Das große Rätselraten

Jetzt, 22 Jahre später, wurde also in dem Haus neben dem Treffpunkt ihr Koffer inklusive der Fährtickets gefunden. Ein Indiz, dass Rosie unmöglich aufgebrochen sein kann. Und tatsächlich: Nach Benachrichtigung des Morddezernats taucht ein Kollege von Frank auf, und findet mit seinem Team eine verscharrte Frauenleiche, die nach einiger Zeit als Rosie identifiziert werden kann.

Und da beginnt das große Rätselraten:

Wer hat Rosie getötet, und vor allem, warum? Niemand außer Frank und ihr wusste, was sie vorhatten, also konnte ihre gemeinsame Flucht kein Motiv gewesen sein.

Frank hat die Anweisung von oben, dass dies nicht sein Fall wäre, und er sich unbedingt rauszuhalten habe. Aber er ermittelt weiter – getreu seiner Undercovermanier, was sich als gar nicht so einfach herausstellt. Personen werden vor ihm gewarnt, Offizielle beauftragt, keine Informationen herauszurücken. Aber Frank hält ein Ass im Ärmel, er kennt die Leute am Faithful Place besser, als jeder andere, spürt alte Freundinnen von Rosie auf, erfährt Dinge, von denen nichts geahnt hat, nimmt jede einzelne Person aufs schärfste unter die Lupe, und beginnt, das Puzzle zusammenzusetzen.

Aber seine sonst so scharfen Antennen funktionieren nicht mehr ganz so ausgezeichnet, denn sonst hätte er den zweiten Mord womöglich kommen sehen…

 

Keine Polizeiarbeit im herkömmlichen Sinne

Ich habe es  hier  schon einmal geschrieben. Tana French ist eine unglaubliche Autorin, eine Meisterin des Krimis! Dort, wo andere nur den schnöden Polizeiablauf beschreiben, denkt sie um Ecken und zeigt uns Wege auf, wie man ermitteln kann, ohne im Einsatz zu sein, ohne Fahnder und Profiler zu haben, die Spurensicherung und den Gerichtsmediziner.

Wie immer geht es hier um psychologische Details – wir dürfen den Leuten ganz tief in ihre Seelen schauen und Abgründe entdecken. Warum sind sie so kalt, so verbohrt und so schrullig, was ist ihnen zugestoßen? Jeder Blick, jedes Räuspern und jedes Zucken erkennt Frank mit seinen geübten Undercover-Augen und kann es sofort für uns übersetzen.

Wir sind dabei, wie er Leute an der Nase herumführt, wie er sich mitfühlend gibt, einen auf hilfreichen Mentor oder auf alten Kumpel zu machen, um Menschen die gewünschten Informationen zu entlocken. Er kann unglaublich gut mit Leuten umgehen, und von seiner kaltschnäuzigen, lockeren und ironischen Art kann man sich sicher das ein oder andere abgucken.

Und dann taucht da auch immer wieder der andere Frank auf, der 19-jährige Junge in ihm, der zu schnell erwachsen werden musste, der von weicher Frauenhaut, funkelnden Augen und guter Rockmusik schwärmt. Dem Leser wird zwischen den Zeilen bewusst, wie viel Schmerz der Mann in sich trägt, und dass diese Frau, auch nach 22 Jahren, auch nachdem er dachte, sie hätte ihn sitzen lassen und trotz der Tatsache, dass sie tot ist, noch immer sein Leben ist. Alles, was sie verkörpert hat, war das, was Frank je wollte, und nach dem er auch heute noch erfolglos auf der Suche ist.

 

Grabesgrün und Totengleich ein Tick besser

Wenn ich mich entscheiden müsste, dann würde ich sagen, dass die anderen beiden French-Romane mir noch ein Tick besser gefallen haben. In Grabesgrün steckte etwas mehr Romantik, was für eine Frau ja immer besonders reizvoll ist, und in Totengleich mehr Poesie, mehr heile Welt. Aber ich beschwere mich nicht über die düstere Atmosphäre in Sterbenskalt; das ist einfach Geschmackssache, kein Meckern auf hohem Niveau.

Trotzdem kenne ich keinen anderen Krimiautoren oder keine andere Krimiautorin, der oder die so intensiv schreiben kann. Hier wird nicht nur Spannung aufgebaut und eine schnöde Geschichte erzählt, hier wird der Mensch mit unglaublich kreativen, stilistischen Mitteln so be- und durchleuchtet, dass wir meinen, wir würden sie schon unser gesamtes Leben lang kennen. Alles wirkt plastisch und normal, wir bekommen keine psychologischen Fachbegriffe oder „So ist es“-Aussagen vorgesetzt. Wie die Personen reden, wie sie sich bewegen, was sie in die Hand nehmen, wenn sie nervös sind, wie sich ihre Augen verdunkeln, wenn sie Angst haben, wie der Raum sich mit Atmosphäre füllt und wie sie miteinander umgehen: All das verrät uns alles, was wir wissen müssen.

Und wer weiß. Wenn man etwas aufmerksamer hinsieht, als Frank, dann erkennt man vielleicht auch Dinge, die er übersehen hat. Probiert es aus!