1963 veröffentlichte die junge Autorin Victoria Lucas „Die Glasglocke“, einen Roman, der heute zu einem der größten Frauenromane zählt und längst zum Klassiker avanciert ist. Der Erfolg ist jedoch nicht nur im Talent der angeblich unbekannten Autorin begründet, sondern hauptsächlich in der Tatsache, dass aufgrund eines tragischen Vorfalls bekannt wurde, dass in Wirklichkeit Sylvia Plath diesen Roman schrieb und sich in ihm autobiografisch verewigte.
Sie erzählt die Geschichte der 19-jährigen Collegestudentin Esther Greenwood. Esther ist ehrgeizig, erfolgshungrig und auch erfolgsverwöhnt. In ihren Literaturkursen ist sie stets die Beste. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sie eines der Mädchen ist, die ein Volontariat bei einer New Yorker Modezeitschrift gewinnt. Damit eröffnet sich nur eine Tür in die Großstadt und in die Freiheit, sondern auch eine in ein luxuriöses Leben. Denn die Mädchen werden mit Geschenken überhäuft und erhalten Einladungen zu vielen exklusiven Partys. Doch Esther merkt bald, dass es nicht das ist, was sie zufrieden stellt. Sie ist nicht in der Lage, wie die anderen, Dates mit vielen verschiedenen Männern einzugehen, denn zuhause wartet ihr Jugendfreund Buddy auf sie und er möchte sie heiraten. Und obwohl sie zu Anstand und Sittsamkeit erzogen wurde, gefällt ihr auch diese Option nicht. Sie möchte sich nicht frühzeitig binden und Kinder bekommen, um dann hinterm Herd verenden; dazu ist sie viel zu neugierig auf verschiedene berufliche Möglichkeiten. All die Optionen, die ihr das Leben bietet beglücken sie nicht, sondern engen sie viel mehr ein. Sie sieht ihr Leben wie einen Feigenbaum mit vielen reifen und leckeren Früchten. Doch sie kann nur eine einzige Frucht wählen. Anstatt sich über diese zu freuen, sieht sie nur all die anderen, die am Baum hängen bleiben und die dann für immer unerreicht bleiben.
Zurück zuhause in einer Kleinstadt in der Nähe Bostons erfährt sie, dass sie nicht für den Schriftstellerkurs angenommen wurde, für den sie sich beworben hat. Ein Schlag ins Gesicht für die junge Frau. Womit soll sie nun die langen Sommerferien überbrücken?
Sie versucht, ohne Hilfe einen Roman aufs Papier zu bringen, aber scheitert. Auch das Angebot ihrer Mutter, ihr Stenografie beizubringen, lehnt Esther ab. Sie möchte hoch hinaus und nicht denselben Weg einschlagen, wie andere Frauen. Als ihr dann jedoch auch nicht gelingt, die Abschlussarbeit fürs College zu beenden, nimmt die leise klingende Unzufriedenheit in ihrem Leben Überhand. Ihre depressiven Verstimmungen entwickeln sich schleichend zu einer Depression. Das Schlafen fällt ihr schwer und sie hat keine Lust mehr, alltägliche Handlungen auszuführen.
Nach einem Besuch beim Arzt, den sie um Schlaftabletten bittet, wird sie zu einem Psychologen überwiesen. Dieser versucht ihr mit grausamen Elektroschock-Methoden zu helfen, die damals noch vielseitig Anwendung gefunden haben. Das Erlebnis ist jedoch so traumatisierend für sie, dass sie für sich entscheidet, dass ihre Verstimmungen nicht heilbar sind. Fortan beschäftigt sie sich nur noch mit verschiedenen Suizidmethoden, um etwas Seelenruhe zu finden.
Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch wird die junge Frau in eine Psychiatrie eingewiesen, in der sie in die Hände einer Frau gerät. Sie gewinnt Vertrauen und versucht ihr Leben wieder stückweise aufzubauen. Ihren Zustand beschreibt sie, als würde sie in einer Glasglocke leben, die sie vom Rest der Welt abtrennt. Egal an welchem Ort sie sich befindet und mit welchen Personen sie zusammen ist, sie sitzt immer in ihrer eigenen abgestandenen Luft hinter Glas und nichts dringt zu ihr durch.
Erst als eine ehemalige Kommilitonin, die nach außen hin immer glücklich und zuversichtlich wirkte, sich selbst umbringt, gelingt ihr die Flucht aus ihrer Glocke. Es scheint, als hätte eine andere Person ihre Probleme mit in den Tod genommen.
Kritiker haben die „Die Glasglocke“ als großartige Gesellschaftskritik gelobt und Frauen auf der ganzen Welt als weitere Errungenschaft der Emanzipation gefeiert. Zwar weist die Geschichte durchaus harsche Worte gegenüber der amerikanischen Spießbürgerlichkeit auf und beschreibt den Kampf zwischen Karriere und Familie, den heute noch viele Frauen ausfechten, aber darum geht es im Grunde nicht.
Im Vordergrund stehen die Depressionen. Manche Leser sehen es anders, aber auch das Warum oder wie es dazu gekommen ist, ist nicht die große Frage. Warum psychische Krankheitsbilder entstehen, ist auch bis heute noch nicht abschließend geklärt. Entwickeln sie sich aus der Unzufriedenheit heraus? Oder ist man nur unzufrieden, weil die Krankheit aufgetaucht ist? Was ist es, was biochemische Prozesse in Gang setzt? Das ist es nicht, was Sylvia Plath verarbeitet.
Vielmehr ist es ihre eigene Geschichte, die sie erschreckender Weise fast detailtreu darlegt. Wie fühlt es sich an, depressiv zu sein? Sich unverstanden zu fühlen und zu glauben, dass es keinen Weg mehr zurück gibt? Was ist es ein Gefühl, unter den Chancen des Lebens zu leiden?
Manchmal trotzig und manchmal sarkastisch, aber glücklicher Weise niemals wehleidig schildert die Autorin ihre eigene innere Zerrissenheit die sich mit der Zeit in eine dunkle Gefühlsstarre entwickelt. Dass Plath eine große Lyrikerin war, merkt man dabei jeder Zeile und jeder Metapher ihrer authentisch geschilderten Geschichte an.
Die Glasglocke von Sylvia Plath lebt nicht vor Spannung. Man sollte ihn viel mehr als Zeitzeugnis oder auch als Biografie von Sylvia Plath betrachten. Menschen, die wortgewaltiger Sprache lieben, werden daran genauso Freude haben, wie solche die Interesse an den Themen Identität und Emanzipation haben. Außerdem zeichnet dieser Roman ein so plastisches Bild einer Depression, dass jeder Nichtbetroffene, jeder Mediziner oder jeder Psychologe eine klare Vorstellung davon erhält, wie es sich anfühlen könnte und welche Leiden damit verbunden sein müssen.
Es handelt sich jedoch um keinen Sonntagnachmittag-Roman und nicht um ein Buch, das man gedankenlos seiner besten Freundin zum Geburtstag schenkt. Es ist ein großes Stück Literatur – düster, schwerverdaulich und sicher nichts für den Mainstream.
Das Buch endet damit, dass die so gut wie geheilte Esther ihrer Entlassung aus der Klinik entgegenfiebert. Das Leben der Sylvia Plath endet damit, dass sie vier Wochen nach der Veröffentlichung Suizid begeht: Sie vergaste sich mithilfe ihres eigenen Backofens.