Einen Irving hasst man oder man liebt ihn. Ich weiß, das sagt man über viele Dinge, aber hier trifft es wirklich zu. Obwohl jedes Buch von John Irving anders ist und eine andere spannende Geschichte erzählt, ist sein Stil so einzigartig, so unübertroffen, dass er überall heraus sticht. Niemand schreibt auf diese Art und Weise, die tragisch, traurig, tiefsinnig, komisch und federleicht zugleich ist. Genau deswegen sind auch alle seine Bücher Klassiker.
Niemand kann sich als Buchkenner bezeichnen, wenn er nicht zumindest einen Irving gelesen hat.

Eine Familie, ein Hotel

Ich möchte euch heute seinen Roman „Das Hotel New Hampshire“ vorstellen.
Darin wird die Geschichte der Familie Berry erzählt, die aus Mutter Mary, Vater Win, den Kindern Frank, Franny, John, Lilly und Egg und dem Großvater Iowa Bob besteht. Sie leben alle gemeinsam in einem Hotel, welches früher einmal eine Mädchenschule gewesen war. Einmal ein eigenes Hotel zu leiten, da war immer der Wunsch von Mary und Win gewesen. Ein Jugendtraum.

Eines Tages entschließen sie sich, gemeinsam nach Wien auszuwandern, und dort ein anderes Hotel zu führen. Die Abenteuerlust war noch immer da, und  auch die Sehnsucht nach seinen Träumen sieht Win noch immer nicht befriedigt. Außerdem lebt dort ein alter Bekannter, der sich Freud nennt. Die perfekte Symbolfigur vom damaligen Sommer, als Mary und Win noch Teenager waren, und ein echter Bär im edlen Hotel herumturnte.

Es kommen allerdings nur Win, Frank, Franny, John und Lilly heil dort an. Die Maschine von Mutter Mary und Nesthäkchen Egg stürzt ab. Und so nimmt auch langsam die Tragik ihren Lauf.
Win fühlt sich noch immer nicht befriedigt, und der Leser erkennt, dass es ihm wie den großen Gatsby geht, dessen Geschichte mit in dem Roman eingeflochten wird. Er jagt einem Gefühl nach, einem Gefühl von Sommer, Jugendlichkeit und vom großen amerikanischen Traum, das es in der Realität nicht gibt. Er ist rastlos, und egal wo er ankommt, er findet nicht das, was er sucht.

Inzest, Prostitution und Anarchismus?

Aber es geht nicht nur um den Vater der Familie. Jeder spielt eine Rolle, und jeder wird mit einer eigenen Storyline umwoben. Erzählt wird die Geschichte beispielsweise aus Sicht des mittleren Sohnes John, der Hals über Kopf in seine fast gleich alte Schwester Franny verliebt ist. Diese Beziehung scheint allein schon aus gesellschaftlicher Sicht unmöglich, aber Irving kennt da keine Tabus.

Franny selbst kämpft mit den Nachwirkungen einer Vergewaltigung, und findet in Susi dem Bären, eine Seelenverwandte. Ist Susi wirklich ein Bär? Nein. Es ist eine Frau, eine Freundin von Freud, die sich aus Angst (besonders vor der Männerwelt) in einem Bärenkostüm versteckt. Klingt nicht logisch? Das soll es auch gar nicht!
Irving muss man sich mehr als einen Märchenerzähler vorstellen, dessen skurrile Phantasie absolut keine Grenzen kennt. In diesem Buch erzählt er von Feminismus, Inzest, Prostituierten, Anarchisten und Terroristen, Bären, Literatur, Tod, Fehlgeburten und Zwergenwuchs.

Die kleine Lilly leidet bereits als Kind unter ihrem Gendefekt, darunter, dass sie einfach nicht wächst. Sie wird Schriftstellerin, strampelt sich in einem Laufrad voller Poesie fast zu Tode, muss dann aber doch erkennen, dass sie niemals groß genug sein wird.

Es würde viel zu weit gehen, wenn ich den Inhalt ausführlich umreißen wollte. Wie gesagt, jede Person wird thematisiert, und die Handlung läuft über viele Jahre. Eine einzige geradlinige Handlung, eine einzige Aussage, das gibt es nicht. Es ist, als würde Irving fünf Geschichten schreiben, und sie alle in „Das Hotel New Hampshire“ miteinander verknüpfen.

Bleibt weg von offenen Fenstern!

Zwei Sätze stechen aus diesem Familienroman ganz besonders heraus, und tauchen auch immer wieder auf. Das wäre zum einen „Kummer schwimmt obenauf“. Kummer war der Name des alten, furzenden Familienhundes, der zum Symbol des Lebens wurde. Man wird von Kummer begleitet.
Zum anderen pflegte der Großvater Iowa Bob immer zu sagen „Bleibt weg von offenen Fenstern“. Es gibt viele Interpretationsansätze, aber sehr wahrscheinlich meinte er, man solle sich von den Gefahren des Lebens fernhalten. Ein Leben fernab von Fenstern wäre zwar risikoarm, würde jedoch Stillstand bedeuten. Sein gut gemeinter Rat kann nicht eingehalten werden, weshalb die Tragik unweigerlich ihren Lauf nehmen muss. Er wusste das.

Am Ende geht es aber weniger darum, was John Irving sagen will, sondern um das Leseerlebnis selbst. Zwar stecken überall Symbole und Metaphern drin, aber in erster Linie möchte dieser Autor unterhalten und eine richtig gute Geschichte erzählen. Das Lesen seiner Bücher gleicht einer Fahrt mit einer Achterbahn – die Spannung steigt langsam, und dann wird man wild herumgewirbelt in einer Welt aus bunten Bildern, Symbolen, Szenen und Andeutungen.

Sein Stil wird gern als tragikomisch bezeichnet. Er schreibt witzig und ironisch, nimmt kein Blatt vor den Mund, spricht Peinlichkeiten und Skurrilitäten an, als wären sie Normalität und berichtet scheinbar platt von Situationen, die so bizarr sind, dass sie einem vor Lachen die Tränen in die Augen treiben. Aber wenn man das große Ganze sieht, 100-200 Seiten im Zusammenhang, dann erkennt man dahinter den Schmerz, leise Trauer und das Gefühl der Vergänglichkeit.
Dabei bleiben die Spannung und die eigentliche Geschichte aber nie auf der Strecke. Wo es anderen an Handlung fehlt, übertreibt er es damit fast. Überall gibt es rote Fäden und so viele Personen über so viele Jahre hinweg. Und am Ende spinnt er alles zu Ende und alles macht Sinn. Wow!

Fazit: Ein außergewöhnliches Buch, das von schrulligen und liebenswerten Personen berichtet, die allesamt auf der Suche sind. Auf der Suche nach den eigenen Träumen, nach dem perfekten Hotel, dem perfekten Roman, der Liebe oder davon, etwas zu zählen.
Die Komik, die mit tragischen Elementen verknüpft wird, lässt einen genauso begeistert zurück, wie die tiefe Poesie, die sich hinter diesem absolut spannenden Pageturner verbirgt.
Der tabulose, merkwürdige und ein wenig sexlastige Stil des Autors dürfte allerdings für Viele Gewöhnungssache sein.