Ihr mögt Krimis und Thriller, seid aber manchmal gelangweilt von der immer gleichen Herangehensweise der Autoren? Dann haben wir etwas ganz Besonderes für euch: „Finstere Orte“ von der Journalistin Gillian Flynn.

Darin geht es um die 31-jährige Libby Day – eine sonderbare Gestalt. Sie lebt allein und zurückgezogen in einer heruntergekommenen Wohnung. Ihre Tage bestehen daraus, im Bett zu liegen, Alkohol zu trinken, die Wände anzustarren, den Hass auf die Welt auszuleben und sich selbst leid zu tun. Kein Wunder, denn als sie sieben Jahre alt war, fand in ihrem Elternhaus ein grausames Massaker statt: Ihr 8 Jahre älterer Bruder Ben pustete ihrer Mutter das Gehirn weg, tötete ihre Schwester Debby mit einer Axt und erwürgte ihre zweite Schwester Michelle. Sie, die sich in letzte Minute retten konnte, indem sie sich draußen am See versteckte, kam trotz intensiver psychologischer Betreuung nie über dieses Drama hinweg.

24 Jahre konnte sie von den Spendengeldern leben, die die geschockten und betroffenen Menschen ihr damals überwiesen. Aber nun ist der Fonds leer. Und da sie sich nie über eine Berufsausbildung oder Arbeit Gedanken gemacht hatte, ist sie in Not.

 

Was geschah damals wirklich?

Sie beschließt, einem Club beizutreten, der aus Menschen besteht, die sich für alte Morde interessieren und versuchen, diese darzustellen oder neu aufzurollen. All die Jahre hat sie ihre schmerzvollen Erinnerungen unter Verschluss gehalten und niemanden an sich rankommen lassen. Doch die Menschen bieten ihr Geld dafür, dass sie alles noch einmal aus ihrer Perspektive berichtet, und sogar noch mehr, wenn sie sich bereit erklärt, mit den damaligen Beteiligten zu sprechen – etwa ihrem Vater Runner, einem Säufer und Loser, der der Familie früh verließ.

Was Libby niemals erwartet hätte: Sie trifft dabei auf Personen, die fest von Bens Unschuld überzeugt sind, und eindeutige Fakten in der Hand halten.

Hat Libby, die die Tat nur angehört, sie aber nie mit eigenen Augen gesehen hat, ihren Bruder zu Unrecht beschuldigt? Falls ja, wer wann dann der wahre Mörder? Warum sollte in einer Nacht ihre komplette Familie ausgelöscht werden?

Gibt es noch Hoffnung für Sie, für Ben und für Ihren Vater?

 

Drei Erzählerperspektiven

Gillian Flynn erzählt einen sehr düsteren Thriller, der von bedrohlichen und depressiven Gedanken getragen wird, stellenweise aber auch zynischen Humor aufblitzen lässt. Damit der Leser sich ein umfassendes Bild machen kann, und sich nicht nur auf die Ohren einer damals 7-jährigen verlassen muss, gibt es drei Erzählerperspektiven.

Die eine findet in der Gegenwart statt, und erzählt von Libbys Recherchen, dem langsamen Ausbrechen aus ihrem dunklen Kokon und dem ersten Wiedersehen, nach über 20 Jahren, mit ihrem Bruder, der seither im Gefängnis sitzt.

Außerdem beschreibt die Autorin die letzten 24 Stunden vor den Morden, einmal aus Sicht von Mutter Patty Day, und einmal aus Bens Sicht. Dabei gelingt ihr etwas Erstaunliches: Aus Pattys Sicht fallen alle Fakten so zusammen, wie die Öffentlichkeit sie später darstellte: Ben war ein auffällig stiller Junge, in dem viel Aggression brodelte. Er gehörte zu einer Satansgang und vergriff sich an kleine Mädchen.

Aus Bens Sicht erfahren wir, wie er, unschuldig und naiv, von einer dummen Situation in die nächste tappt, wie sich Dinge rein zufällig fügen und am Ende eine Katastrophe herbeiführen, die er nicht hat kommen sehen.

Wir haben drei Perspektiven und lernen drei Personen intensiv kennen. Dabei müssen wir bis zum Schluss abwägen: Hat Ben es getan, oder hat er es nicht getan? Ist vielleicht doch etwas an dem dran, was man erzählt, oder war er nur ein missverstandener Pubertierender, den man mangels Beweise und Zeit vorschnell weggesperrt hatte?

Interessant finde ich auch, wie man es als Leser schafft, Libby immer mehr in sein Herz zu schließen. Das ist angesichts der Umstände eigentlich gar nicht so leicht: Sie klaut alles, was sie in die Finger kriegen kann, die ist auf Geld fixiert und hat keinerlei Gewissen, wenn es darum geht, es den Menschen erbarmungslos aus der Tasche zu ziehen, sie nutzt aus, wen sie ausnutzen kann, will Mitleid, lässt aber niemanden an sich ran, und beschreibt eine tief sitzende „Fiesheit“, die sich in ihrem Inneren eingenistet hat, und die sie niemals würde vertreiben können.

Die Autorin schafft eine spannungsvolle Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, und stellt uns ein kleines und verängstigtes Mädchen vor, das wir stückweise auch in der erwachsenen Libby wiedererkennen. Der Leser beginnt mehr an sie zu glauben, als sie es selbst tut.

 

Eine Charakterstudie

In „Finstere Orte“ geht es nicht nur darum, was geschah und wer es aus welchem Grund getan hat, sondern auch um die Entwicklung der Charaktere selbst. Da ist die sanfte, aber ausgebrannte Patty, die keine Kraft mehr hat, eine Farm zu führen oder ihre vier Kinder zu versorgen, der versoffene Runner, der überall Schulden macht und nie genug Geld bekommen kann, und seine Kinder immer seiner aggressiven Art erschreckt, und dann eben Ben und Libby – von denen man nie genau weiß, ob sie nun sind, wie ihre im Grunde liebenswürdige Mutter, oder wie ihr unberechenbarer und gewissensloser Vater. Nur eines ist sicher: Nichts ist, wie es scheint, und man muss tief graben.

„Finstere Orte“ ist nicht wie andere Thriller, da es nicht um das direkte Mordgeschehen geht, und auch nicht um die anschließende Polizeiarbeit. Es ist ein Blick in die Vergangenheit mit intensiven Charakterskizzen, und ein Bild von einem Amerika, wie es sich in den 80er Jahren in der tiefsten Provinz zeigte: Runtergekommen, verarmt und durch Satanismus bedroht, der im Grunde nichts anderes war, als gelangweilte Teenager.

Auch wenn es kein Buch ist, wie man es erwarten würde, oder vielleicht auch gerade deswegen, ist viel Nervenkitzel bis zum Schluss garantiert.

Und eines darf vorab verraten werden: Das Böse lauert auch noch in der Gegenwart. Libbys Neugier bringt sie am Ende wieder einmal in tödliche Gefahr…