Tess Gerritsen ist Ärztin. Sie gab eine vielversprechende Karriere als Internistin auf, um Medical Thriller zu schreiben. Was stellt man sich darunter nun vor? Ständig Autopsien und endlose Beschreibungen über die menschliche Anatomie? Weit gefehlt! Die Autorin hat zwar medizinisches Fachwissen, wie kein zweiter in dem Business, sie hat aber noch mehr Fantasie und Talent fürs spannende Schreiben – und das ist doch das Wichtigste.

Ich persönlich habe Krimis und Thriller immer gehasst, zugegeben, ohne je einen gelesen zu haben. Da waren Fernsehserien wie CSI und Co., die mich immer genervt haben und als abschreckendes Beispiel dienten. Aber die „Chirurgin“ ist nicht nur CSI, es ist eine Mischung aus CSI, „Greys Anatomy“ und „Ich weiß, was Du letzten Sommer getan hast“, wenn man so will. Menschliche Schicksale und der Alltag im Krankenhaus werden thematisiert, viel dominanter ist allerdings der Horror- und Gruselfaktor. Ja, auch Krimielemente sind logischer Weise vorhanden, aber das muss ja nichts Schlechtes bedeuten. Es ist zwar immer das gleiche Prinzip: Ein Mord, Polizisten und Aufklärungsarbeit, aber das sind ja nur die Grundpfeiler. Die eigentliche Geschichte schlängelt sich da herum. Und die ist es, die einen Thriller atemberaubend gut macht oder ihn als klischeehaftes Trauerspiel abstempelt.

Worum geht es nun in Tess Gerritsens  „Die Chirurgin“?
Es ist ein heißer Sommer in Boston. Die Nächte sind schwül und drückend – und auch, wenn es wenig Abkühlung bietet, stehen die meisten Wohnungsfenster sperrangelweit offen. Ein Fehler! Denn in manchen Wohnungen nutzt ein Serienkiller diese Einladung. Er steigt ins Schlafzimmer von Frauen, fesselt sie und schlitzt ihnen bei lebendigen Leib die Gebärmutter heraus; seine Trophäe! Anschließend tötet er sie.
Jane Rizzoli und ihr männlicher Partner Thomas Moore werden mit diesem Fall beauftragt, doch sie tappen lange ins Dunkle. Bis auf die Tatsache, dass der Mörder so präzise und exakt arbeitet, dass man einen medizinischen Background vermutet, haben die beiden nicht viel in der Hand.
Die Frauen scheinen wahllos herausgepickt zu werden. Doch dann stoßen sie auf einen Fall, der sich einige Jahre zuvor in Savannah ereignete. Auch dort tötete ein Serienmörder nach genau dem gleichen Muster, bis er schließlich von einem seiner Opfer überwältigt und erschossen wurde.
Rizzoli und Moore machen sich auf die Suche nach der Chirurgin Dr. Catherine Cordell, der einzigen Überlebenden. Diese bestätigt noch einmal, dass der Täter von ihr im Affekt getötet wurde. Es kann sich also nicht um ein und denselben Mann handeln. Oder doch?
Warum sonst scheint Cordell nun erneut zur Zielscheibe zu werden?

Tess Gerritsens  „Die Chirurgin“ ist Nervenkitzel pur und spannend bis zur letzten Seite. Nicht ein einziges Mal hat man das Gefühl, dass es unnötige Längen gibt oder dass dieses oder jenes durchschaubar wird. Hier vereint sich alles, was das Herz begehrt: Menschliche Schicksale, ein großes Rätsel und Gruselelemente, die selbst bei 30 Grad eine Gänsehaut verpassen.

Nicht nur die unerträgliche Hitze und die drückende Stimmung werden von der Autorin wunderbar beschrieben, auch die Figuren sind so authentisch charakterisiert, als würde man sie persönlich kennen. Interessant ist dabei, dass sie dabei auch in die Rolle des Täters schlüpft und uns seine Abgründe und seine unmenschlichen Gedanken erzählt.
Überwiegend wird die Geschichte aus der Sicht von Inspector Moore und Dr. Cordell erzählt. Man darf seine Aufmerksamkeit aber auch ruhig schon einmal auf Jane Rizzoli richten. Sie erscheint auf den ersten Blick vielleicht wie eine kratzbürstige und kauzige Emanze, aber in ihr steckt noch viel mehr. Als einzige Frau in einer Männerdomäne versucht sie sich Respekt zu erkämpfen und vergisst dabei manchmal das Frausein. Mit ihr hat die Autorin einen Charakter geschaffen, der mehr hergibt, als nur eine einzige gute Geschichte. Denn nach „Die Chirurgin“ sind noch sieben weitere Thriller erschienen, in denen sie die Hauptrolle spielt – die der verletzten Frau, die nach außen hin die toughe Polizistin mimt.

Mich hat dieses Buch absolut überzeugt, und das, obwohl ich Krimis und Thriller jahrelang verschmäht habe. Und nicht nur das, es hatte gleichzeitig so eine Suchtwirkung, dass ich mir auch jeden weiteren Teil gekauft habe. Lasst Euch davon aber nicht abschrecken. Die ersten Rizzoli-Teile bekommt man jetzt schon für 1 oder 2 Euro auf Ebay oder bei einschlägigen Buchseiten. Der Geldfaktor sollte also kein Hindernis sein.
Ich kann jedem nur empfehlen: Lest „Die Chirurgin“ … aber achtet darauf, dass Eure Fenster immer gut geschlossen sind 😉