Dass Edgar Rai heutzutage als Autor arbeitet, ist sicher etwas ungewöhnlich. Zwar gibt es keinen typischen Bildungsweg für Romanautoren, sein Lebenslauf ist jedoch alles andere als geradlinig und lässt lange Zeit nicht erahnen, dass er sich für das Schreiben interessiert. Er studierte Musikwissenschaften, arbeitete als Basketballtrainer, Chorleiter und Handwerker. Schließlich bekam er eine Stelle als Onlineredakteur, übersetzte Romane und fing dann auch selbst mit dem Schreiben an.

Sonnenwende – autobiografisch?

Einen Teil seiner eigenen Geschichte hat er vielleicht auch in seinem Roman „Sonnenwende“ verarbeitet.
Darin geht es um die beiden Freunde Tom und Wladimir. Sie sind in ihren Dreißigern, leben in Berlin und stecken in einer Art Quarter Life Crisis.

Wladimir ist eigentlich Student der Luft- und Raumfahrttechnik. Er befindet sich irgendwo im zwanzigsten Semester, macht aber keine Anstalten, es zu beenden. Und Tom ist eigentlich Pianist. Aber statt ihren eigentlichen Berufsweg weiter zu verfolgen, arbeiten beide gemeinsam eher schlecht als recht als Handwerker in Privatwohnungen – schwarz, versteht sich. Heute mal blau machen, morgen wieder reinhauen, die Jungs leben in den Tag, und wissen beide noch nicht so recht, wohin sie das Morgen führen wird.

Die Arbeit ist auch das einzige, was sie zusammenschweißt, denn privat könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Während vor Wladimir keine Berlinerin zwischen 19 und 28 Jahren sicher ist (danach erliegen sie seiner Meinung nach dem Verfallsdatum der Jugend und Schönheit), ist Tom schon viele Jahre mit Helen zusammen und eine absolut treue Seele. Doch der Schein der ach so perfekten Beziehung beginnt zu bröckeln. Nach all den Jahren sind die Zärtlichkeit, die Harmonie und auch das gegenseitige Verständnis auf der Strecke geblieben. Sie vermissen sich zwar, wenn sie nicht zusammen sind, können sich aber kaum ertragen, wenn sie es sind. Dazu kommt Helens Eifersucht und ihre fast krankhafte Angst, Tom zu verlieren. Sie reagiert in jeder erdenklichen Situation mit Vorwürfen und Klammern, was eine tiefe Schlucht zwischen beide treibt.
Um die Beziehung zu retten, erwägt Tom es, einen Seitensprung zu wagen…

Rollentausch

Dem gegenüber gerät Wladimir in die Fänge eines rassigen, rothaarigen Mädchens, das ihn, im Gegensatz zu all den anderen, zappeln lässt, und ihn damit zahm wie ein kleines Hündchen macht.

Ohne, dass sie es bewusst wahrgenommen haben, beginnen sich die Rollen der beiden zu vertauschen. Es ist eine Veränderung die beide gebraucht haben, um ihren Platz im Leben zu finden.

Edgar Rai, dessen Stil an David Gilmour erinnert, erzählt geradeheraus, lustig und schnörkellos von einem Sommer in Berlin, von Liebe, Sex, Treue und Beziehungen. Bikinis, Partys, Erotik, Hitze und Humor schaffen eine tolle Atmosphäre, die so faszinierend wirkt, dass man den Roman kaum aus der Hand legen kann.
Ich habe das Buch, das es immerhin auf 220 Seiten bringt, an einem einzigen Tag fertig gelesen – und das, obwohl es nicht im eigentlichen Sinne spannend ist. Die Geschichte plätschert so vor sich hin und erzählt eigentlich nur vom stinknormalen Leben, wie es jeder selbst kennt. Und dennoch, etwas befindet sich zwischen den Zeilen, was sie unwiderstehlich macht.

Witzig: Auch das Thema Jörg Kachelmann ist darin verarbeitet. Nur ganz subtil, und mit einem kleinen Augenzwinkern. Aber so könnte man den ganzen Roman beschreiben: Kleine Dinge, die nur scheinbar am Rande erwähnt werden, kreieren das große Ganze.

Für Männer

„Sonnenwende“ sei auf jeden Fall allen männlichen Wesen zwischen 15 und 35, oder auch allen älteren Freigeistern und Lebenskünstlern, ans Herz gelegt. Natürlich können auch Frauen Gefallen daran finden, aber hier geht es in erster Linie, um männliche Probleme und Sichtweisen.

Mit diesem Roman hat Edgar Rai ein erfrischendes Sommerbuch vorgelegt, das sich schnell weg liest und wirklich Spaß macht. Es ist mehr eine kleine Abwechslung für zwischendurch, und nichts, was noch lange nachklingen wird. Für den Reisekoffer genau das Richtige!