„Elf Leben“ von Mark Watson habe ich mir gekauft, weil es auf dem hinteren Cover mit „Zwei an einem Tag“, eines meiner Lieblingsbücher, verglichen wurde. Ich bin eigentlich der Meinung, dass Bücher, die beide jeweils für sich beanspruchen, gut zu sein, sich nicht ähneln können – zumindest nicht, wenn sie aus unterschiedlichen Federn stammen. Aber neugierig war ich trotzdem.

Mark Watson stellt uns den Radiomoderator Xavier Ireland vor. Xavier arbeitet nachts, verdient nicht schlecht und lebt in einer netten Londoner Wohnung, für die er keine Miete zahlen muss. Seine Vermieterin hat einen Millionär geheiratet, und kümmert sich deswegen nicht um weitere Einnahmen.
Er ist ein gutaussehender und netter Kerl, aber trotzdem single und recht einsam. Außer seinem kauzigen Co-Moderator Murray hat er keine Freunde. Die zwei anderen Frauen, die in seinem Haus wohnen, ignoriert er weitgehend. Ein kurzer Wortwechsel oder eine höfliche Nachfrage ist das äußerste der Kommunikation. Man lebt aneinander vorbei. Eigentlich zieht Xavier es vor, sich aus allem rauszuhalten.
Im Radio spielt er den Psychologen, Berater, besten Freund und Kummerkasten für all die traurigen Seelen da draußen. Er hört sich deren Probleme an, und hilft ihnen mit guten Ratschlägen. Aber all das, was er dort predigt, beherzigt er selbst nicht. Warum? Was ist los mit ihm?

Damals in Australien…

Xavier heißt eigentlich Chris, und kommt eigentlich auch aus Australien. Dort hatte er drei tolle Freunde, die seit der Schulzeit eine enge Clique waren. Mit eines der Mädchen führte er auch eine langjährige Beziehung, war glücklich und ausgelassen.
Aber dann ist etwas passiert, das so schrecklich war, dass er nach England geflüchtet ist. Um nichts hätte er dieses Geschehen wieder rückgängig oder auf irgendeine Weise wieder gut machen können. Also entschloss er sich zu einem komplett neuen Leben.

Das, was damals passiert ist, ist so ein wenig der Aufhänger der Geschichte. Der Leser erfährt es nicht sofort, wird aber mit kleinen Teasern langsam darauf vorbereitet.

Erst als Xavier auf die übereifrige und dralle Putzfrau Pippa trifft, erkennt er, dass ein Leben in der Lähmung, ein Leben, das eigentlich nur aus Routine und Mauern besteht, kein wirkliches Leben ist. Es ist nicht möglich, einerseits glücklich zu sein, sich aber andererseits von allem und jeden fernzuhalten.

Elf Leben – elf Konsequenzen

Als Nebenhandlung präsentiert Mark Watson uns noch einen Einblick in viele andere Leben. Da gibt es zum Beispiel einen Jungen, der von seinen Mitschülern auf offener Straße übel verprügelt wird. Xavier hat die Möglichkeit, das zu verhindern, aber er hat beschlossen, sich lieber rauszuhalten. Der Junge landet im Krankenhaus. Das macht seine gestresste Mutter, eine bekannte Journalistin, so wütend, dass sie eine ungerechtfertigte Kritik über ein Restaurant schreibt. Das wiederum haut den Geschäftsführer so aus den Socken, dass dieser in einer Kurzschlussreaktion eine seiner Küchenhilfen entlässt. Dieser schleppt seit Jahren extremes Übergewicht mit sich herum, und weiß nun nicht mehr, wie er die Raten seines Fitness-Studios begleichen soll. Deshalb klaut er einem Mann in der U-Bahn sein teures Handy. Dieser Mann…

Und es folgen immer weitere Ereignisse, die wieder in das Leben eines anderen Menschen eingreifen. Es ist diese eine einzige Entscheidung von Xavier, das Nichthandeln oder Nichteingreifen, das eine lange Kette von Handlungen in Gang setzt. Durch Elf Leben hindurch geschehen Dinge, die in dieser Form niemals eingetreten wären, hätte Xavier den Mut gehabt, für das, an das er glaubt, einzustehen.
Er kennt die Leute nicht, deren Leben durch ihn indirekt beeinflusst werden. Aber am Ende fällt diese Handlungskette wieder auf ihn zurück. Er bekommt die Chance, seine schlimme Vergangenheit zumindest teilweise wieder gut zu machen. Aber wie es so ist: Das Leben gibt nichts, wo es nichts nimmt.

Alles im Leben ist miteinander verknüpft. Wir hinterlassen immer und überall unsere Spuren, ob wir uns dessen bewusst sind, oder nicht. Vielleicht gibt es so etwas wie das Schicksal nicht, aber nach der Lektüre dieses Romans können wir uns nicht mehr so sicher sein, ob das, was uns hier oder da zustößt, nicht auch das ist, was wir irgendwann einmal in Gang gesetzt haben.

Es werden zwar elf andere Personen thematisiert, aber sie bleiben größtenteils flach und eindimensional. Es geht jeweils nur immer um eine entscheidende Szene, die die Handlung voran treibt, nicht wirklich um deren Leben. Die Hauptfigur bleibt durchgehend Xavier.

Der Stil eines britischen Comedians

Ich bewundere das, was der Autor, übrigens ein britischer Comedian (kaum zu glauben!), mit diesem Buch geschaffen hat. Es ist nicht nur eine spannende Geschichte, die viele Fragen aufwirft, sondern auch ein Konstrukt, das uns, ohne dass sie einmal erwähnt wird, eine Moral vor Augen führt.
Auch der Stil von Mark Watson ist beeindruckend. Mal schreibt er lustig und lässig, mal schlägt er ganz melancholische Themen an. Wie selbstverständlich flechtet er auch Zukunftsprognosen á la „In 40 Jahren wird er sich an dieses Ereignis zurückerinnern“ oder „Sie wird einen Banker heiraten, auswandern und drei Kinder bekommen“ mit ein. Das schafft ein Gefühl vom großen Ganzen, und nimmt all den kleinen Geschehen ihre Zufälligkeit.

„Elf Leben“ ist ein Buch, das nicht nur mit der nächtlichen und einsamen Atmosphäre Londons berührt, sondern auch mit kleinen Zwischentönen – einer leisen Stimme, die uns sagt, Leben, das ist jetzt. Nichts ist ohne Bedeutung, nichts passiert einfach nur so.

Mit „Zwei an einem Tag“ hat das Ganze überhaupt nichts zu tun. Nicht inhaltlich, nicht stilistisch und auch nicht vom Gefühl her. Aber ich bin froh darum. „Elf Leben“ ist auf seine ganz eigene Art großartig. Bitte lesen!